Interview für die „IZB Biotech News“
Neue Niedermolekulare Medikamente der Zukunft für das ZNS
Die Origenis nutzt ihre AI-Technologieplattform, um hochoptimierte Wirkstoffe für neurodegenerative, neuroonkologische und neuroinflammatorische Erkrankungen zu entwickeln.
März 2024
© iStock / K-Kwanchai
Nahaufnahme der Pipettentropfenden Chemikalie im Reagenzglas im Labor
Seit über 20 Jahren arbeitet die Origenis GmbH daran, die Wirkstoffforschung zu modernisieren. Das Unternehmen verfügt nicht nur über eine integrierte Technologieplattform für die Identifizierung und Analyse innovativer Targets, sondern auch über eine Reihe von Entwicklungskandidaten in herausfordernden Indikationen mit hohem medizinischem Bedarf. Ein Gespräch mit CEO & CSO Dr. Michael Thormann über kleine Moleküle, die Trennung von Technologie- und klinischer Entwicklung und die Suche nach unerforschten chemischen Räumen.
Herr Dr. Thormann, Sie sind neben Michael Almstetter und Dr. Andreas Treml einer der Gründer der Origenis GmbH. Wie kam es 2005 zu dem Buyout aus der Morphochem AG und was war die Gründungsidee der Origenis?
Das Marktumfeld im Jahr 2005 war schwierig, und die Morphochem hat es damals trotz sehr guter Kapitalisierung nicht geschafft, das Börsenfenster mitzunehmen. Sie ist dann in eine monetär enge Situation gekommen und es war schlichtweg nicht mehr genug Geld da, um sowohl die Technologieplattform, die wir drei Gründer zusammen innerhalb der Morphochem entwickelt hatten, als auch die Wirkstoffkandidaten parallel weiterzuentwickeln.
Wir haben uns daher entschieden, unsere Technologieplattform mit sechs Mitarbeitern aus unserem Drug Discovery-Team eigenständig weiterzuentwickeln. Dabei hat uns geholfen, dass wir schon zwei Kollaborationen hatten, mit der Probiodrug (heute Vivoryon) im zentralnervösen Bereich und der Alcon in der Augenheilkunde. Beide Firmen haben das Potenzial unserer Technologie gesehen und gesagt: Wir zahlen euch weiter. Das heißt, am ersten Tag der Origenis hatten wir Geld auf dem Konto und zwei Verträge. Das ist so nicht replizierbar, da gab es viel Vertrauen von Seiten unserer Geschäftspartner.
Heute haben Sie eine integrierte Technologieplattform für die Identifizierung und Analyse von neuen Wirkstoffen gegen innovative Targets. Wie sind Sie dort hingekommen?
Wir waren konfrontiert mit einem Problem, für das es de facto keine Lösung gab. Man kann so viele unterschiedliche kleine Moleküle machen, von denen könnte es etwa 1060 unterschiedliche Substanzen geben. Ressourcenbedingt sind wir aber immer darauf angewiesen, die Richtigen zu machen. Aber woher wissen wir, welche das sind?
Wir haben uns angeschaut, was wir an chemischen Ausgangsstoffen im Schrank haben und überlegt, was wir damit synthetisieren könnten. Das nächste Problem war, das digital abzubilden und in diesen chemischen Räumen auch suchen zu können. Eine Dezillion ist wirklich eine große Zahl, da kann man nicht alle möglichen Substanzen durchrechnen, egal wie schnell Ihre Computer sind. Wir haben daher mathematische Methoden entwickelt, um in diesen riesigen Räumen schnell zu guten Lösungen zu kommen, diese dann im Labor umzusetzen und zu testen – und das Ergebnis dann wieder zurückzuführen in den Computer, damit er lernt, was nicht geht und beim nächsten Mal bessere Vorschläge macht. Wir haben also virtuelle Chemiker, Biologen und Pharmakologen gebaut. Damit konnten wir neue Substanzen designen, diese am Computer voroptimieren und sehr effizient die Ressourcen im Labor nutzen.
Wie ging es dann weiter?
Natürlich wollen wir unsere Substanzen auch patentieren. Aber woher wissen wir denn, dass es die noch nicht gibt? Auch wenn der chemische Raum grundsätzlich sehr groß ist, kommen medizinalchemische und AI-Standardverfahren oft auf sehr ähnliche Lösungen, was zu IP Kollision führt. Jemand publiziert etwas Interessantes und dann sagen die anderen, ich probiere das auch mal aus, dann habe ich weniger Risiko, aber auch weniger Innovation. Vielleicht finde ich doch noch einen kleinen Bereich, der patentierbar ist, doch der Handlungsspielraum für die Optimierung wird von vornherein stark eingeschränkt. Wir hingegen haben gesagt: Vielleicht gibt ganz neue Substanzklassen, große unerforschte chemische Räume. Aber um das zu wissen, muss man alles lesen. Es heißt immer, wir sind im Informationszeitalter, aber in Wirklichkeit ist der allergrößte Teil der Informationen irgendwo versteckt. Jemand hat ein großes Schloss davor gemacht und hält die Hand auf und will einen Haufen Geld dafür haben und bietet Steinzeitalter-Methoden für die Suche und Analyse. Echte Informationsquellen zu finden, die man sich als kleine Firma leisten kann, ist eine Herausforderung.
Was wir aber kriegen können, sind Patentdokumente, da sprechen wir für Chemie und Pharmazie von weltweit über 23 Mio. Dokumenten. Um daraus chemische und nichtchemische Informationen ziehen zu können, brauchen wir Technologien. Die haben wir entwickelt und uns in einem nächsten Schritt die molekularen Targets angeschaut. Und damit hatten wir auf einmal eine Matrix aufgestellt zwischen Substanzen, zwischen Enzymen oder Rezeptoren, den Krankheiten und den Firmen, die darauf arbeiten.
Für diese Abstraktion des Wissens aus Patenten und die Verwendung dieses Wissens, um uns selbst zu positionieren, haben wir das Produkt Cippix® entwickelt. Damit gleichen wir das, was wir innovativ machen, proaktiv mit dem ab, was wöchentlich im Patentraum passiert. Cippix® kann uns dann sagen: Vorsicht hier eckt ihr an einer IP an.
Dr. Michael Thormann, CEO und CSO von Origenis
© Origenis
Welche Bedeutung hat Ihr Claim „Where no one has gone before“?
Zum einen bezieht sich das auf die Substanzen. Es gibt unterschiedliche chemische Synthesewege, um eine Substanz herzustellen. Wir haben AI-Methoden entwickelt, die Chemie als solche völlig anders abbilden als klassische Namensreaktionen das können, wir bauen dort eigentlich eine neue Repräsentation der Chemie auf. Wir haben uns nie davor gescheut zu sagen: Das gibt es noch nicht – wir machen es trotzdem. Das war ein weiter, steiniger Weg und wir sind noch nicht so weit, dass wir auf den Knopf drücken und dann purzelt da eine einzige perfekte Struktur heraus. Aber wir sind sehr gut darin, Familien neuer Substanzen mit vorgegebenen Eigenschaften in kurzer Zeit zu generieren, für die wir eine Synthese darstellen können, so dass wir sie patentieren und entwickeln können. Die zahlreichen Patente, die wir halten, sind ein guter Beleg dafür, dass wir auch als kleine Firma sehr innovativ sein können.
Der nächste Punkt ist enorm wichtig: Es gibt einige Organe oder Gewebe, die nur schwer zu erreichen sind, dazu gehören das Auge und das Gehirn. Wir können mit unserer Technologieplattform Substanzen sehr gut so designen, dass sie an ihr Zielgewebe kommen. Wir sind eine der wenigen Firmen, deren Wirkstoffe planmäßig über die Blut-Hirn-Schranke kommen. Damit ergeben sich völlig neue Therapiemöglichkeiten, beispielsweise für virale Infektionen im zentralnervösen System, Neurodegeneration, aber auch Tumore im Gehirn. Diese Erkrankungen stellen einen großen ungedeckten medizinischen Bedarf dar. Wir haben uns auf das ZNS fokussiert, weil es vielleicht das schwierigste Organ ist mit dem größten Markt. Zum anderen kann die Einbeziehung des ZNS schon präklinisch gezeigt werden und erlaubt frühestmögliche Differenzierung zu Kompetitorprogrammen.
Warum umfassen Ihre Wirkstoffkandidaten so viele Indikationen?
Wir stellen das molekulare Target in den Mittelpunkt unserer Forschung, einen Mechanismus, dessen Inhibition durch kleinmolekulare Wirkstoffe potenziell multiple medizinische Anwendungsmöglichkeiten haben kann. Unsere Herangehensweise ist damit anders als die von großen Firmen. Die haben zum Beispiel eine Abteilung für alles, was mit Parkinson zu tun hat. Wir nutzen damit Synergien, minimieren das Entwicklungsrisiko und maximieren den potenziellen Markt mit unserem Pipeline-in-a-Drug Ansatz. Unsere Wirkstoffkandidaten sind alle aus unserer eigenen AI-Plattform erwachsen.
Dieser Ansatz ist sehr nachhaltig, weil man mit der Entwicklung in einer Hauptindikation anfangen und dann in andere Indikationen übergehen kann, die sich durch den Mechanismus ergeben. Wir suchen uns dabei Targets, die schwer zu erreichen sind. Wo können wir mit unseren selektiven Wirkstoffen sehr schnell einen Differenzierungspunkt, beispielsweise die zentralnervöse Verfügbarkeit, zeigen? Dass sich das Potenzial unserer Wirkstoffkandidaten früh nachweisen lässt, ist für uns als privat finanziertes Unternehmen besonders wichtig, um das Interesse der Investoren zu wecken.
Gemeinsam mit dem Investor Kleiner Perkins haben Sie in den USA das Start-up Neuron23 gegründet. Wie kam es dazu und wie profitiert die Origenis davon?
Wir hatten sehr interessante Wirkstoffkandidaten für Neurodegeneration in unserem Portfolio. Die Idee dahinter ist, Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer sehr früh zu diagnostizieren und ihr Voranschreiten so zu verlangsamen, dass sie während der Lebenszeit nicht zum Problem werden. Wir hatten auf die richtigen Targets gesetzt, die wir einige Jahre vorher durch unsere Technologie als „Emerging Targets“ identifiziert hatten und neue Klassen von ZNS-Wirkstoffkandidaten vorgelegt, deren Entwicklung sofort losstarten konnte. Das fanden die US-Investoren im Gegensatz zu den hiesigen spannend.
Gemeinsam mit Kleiner Perkins haben wir daher 2018 die Neuron23 gegründet: mit unseren Wirkstoffkandidaten, US-amerikanischem Geld und einem US-Team, das das Unternehmen aufgebaut und die Assets langsam übernommen hat. Das hat sehr gut funktioniert, zwei unserer Substanzen sind schon in der Klinik, die Neuron23 hat über 200 Mio. US-Dollar bekommen und geht auf den IPO zu.
Jetzt wird es interessant: Wie partizipiert denn die Origenis daran? Am Anfang haben wir geholfen, diese neue Ausgründung mit aufzubauen, die Assets zu übergeben, für eine bestimmte Zeit auch Back-up-Kandidaten zu generieren. Dafür haben wir von der Neuron23 Research-Funding erhalten. Gleichzeitig finden wir es gut, dass dieses Start-up unabhängig von der Origenis eine eigene Entwicklung nimmt, denn damit wird es multiplizierbar. Wir halten noch immer einen substanziellen Anteil an der Neuron23. Bei einem kommerziellen Erfolg der Neuron23 (mittels M&A oder IPO) partizipieren wir und haben unseren Return on Investment – und das bereits viele Jahre, bevor die Wirkstoffe auf den Markt kommen.
Aber wie ist ihr Geschäftsmodell bei der Origenis?
Wir sind sehr gut darin, optimierte, neuartige Substanzen zu machen: potent, selektiv und entwickelbar. Allerdings entwickeln wir diese nicht klinisch. Dafür bräuchten wir ganz andere Kapitalmengen, das können Privatinvestoren allein nicht leisten. Wir können das, was unsere Technologieplattform liefern könnte, gar nicht allein ausnutzen. Deshalb werden wir die Plattform – und das ist für uns ein Novum – in einer geeigneten Art und Weise einer Kommerzialisierung zuführen. Das können Kollaborationen mit ausgewählten Partnern sein, beispielsweise mit Firmen aus den Bereichen Target Identification oder Validation, aber auch Joint Ventures.
Außerdem arbeiten wir bereits am nächsten Spin-out nach dem Muster von Neuron23. Auch für Investoren ergeben sich dort neue Möglichkeiten. Die Idee ist, dass wir unsere Entwicklungskandidaten mit einem vernünftigen Datenpaket und einer vernünftigen IP-Position ausstatten und dann mit professionellen Biotech-Investoren ein Vehikel gründen, das sich um die Entwicklung und die Vermarktung dieser Assets kümmert. Die Investoren können also in einen Entwicklungskandidaten investieren, müssen aber nicht noch fünf andere Assets, das ganze Patent-Portfolio und auch noch die Technologieplattform verstehen und finanzieren. In diesem Punkt haben wir unser Geschäftsmodell dem real existierenden Markt angepasst.
Die Origenis wird somit immer mehr zu einer Holding, die unterschiedliche Wirkstoffkandidaten und Plattformen in Untereinheiten hat, die mehr oder weniger lose mit uns assoziiert sind. Das müssen nicht unbedingt Töchter der Origenis sein. Damit wird das ganze multiplizierbar.
Im Jahr 2006 sind Sie ins IZB gezogen. Was ist für Sie das Besondere an diesem Standort?
Das IZB ist schon ein besonderer Standort, nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa. Es sind viele Firmen hier und die Nähe zum Max-Planck-Institut und den Universitäten gefällt mir gut. Damit ist man ist hier schon näher am Puls. Klasse finde ich besonders die Veranstaltungen wie den IZBrunch oder die Press Lounge, wo das IZB die Leute zusammenbringt. Die Leute hier sind das Wichtigste für mich.
Ich sehe das IZB als sehr pragmatische Lösung für Frühphasenlogistik: hohe Decken, gescheite Abluft, für Labor designte Infrastruktur. Das anderswo zu finden ist eine echte Herausforderung. Man kann nicht einfach ein Bürogebäude in ein Labor umwandeln, das funktioniert nicht. Hier hat man die Labore und man kann arbeiten – das ist ein super Standortvorteil für Süddeutschland. Außerdem ist uns das IZB, wo es möglich war, entgegengekommen, wenn wir Wünsche vorgebracht haben. Die Räume wurden beispielsweise für die Origenis so umgebaut, dass sie unseren Bedürfnissen entsprachen. Als Geschäftsführer hat sich Herr Dr. Zobel immer sehr für die Interessen der Mieter eingesetzt. Wie wertvoll das IZB für uns als Unterhemen war, zeigt nicht zuletzt unsere lange Mietdauer. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, wäre das ein IZB2 für die Firmen, die eine gewisse Reife erreicht haben, aber eben immer noch keinen Gewinn machen.
Mit dem Jahr 2023 ging für die Origenis die Ära im IZB zu Ende. Wir haben das IZB verlassen und sind mit Büros und Labors nach Steinkirchen in die Semmelweisstraße 1 in über 1000 m2 neue Räumlichkeiten gezogen.
Mit welchem Gefühl blicken Sie in die Zukunft des Unternehmens und welche nächsten Meilensteine wollen Sie erreichen?
Wir sind sehr zuversichtlich, was die Zukunft angeht, weil wir multiple Standbeine haben, die sich nicht kannibalisieren. Sowohl auf der Wirkstoffseite, aber auch auf der Plattformseite haben wir interessante und wettbewerbsfähige Produkte. Allein unsere Existenz seit 2006 als privat finanziertes Biotechunternehmen zeigt, dass nicht immer alles nach äußeren Vorgaben laufen muss, man Dinge auch anders machen kann. Ich hoffe, dass wir sehr innovativ bleiben werden und den Spagat zwischen Plattform und Entwicklung gut hinbekommen.
Ein Meilenstein wäre sicherlich der IPO der Neuron23, auch wenn wir das nicht kontrollieren können. Das wäre nicht nur eine breitere wissenschaftliche, sondern auch eine monetäre Validierung unserer Plattform. Für eine Firma, die mit neun Leuten angefangen hat und jetzt knapp 30 Leute groß ist, wäre das schon ein hervorragendes Ergebnis.
Unser nächster Meilenstein ist, unser Hauptprojekt den einzigen p-Tefb-Inhibitor mit ungehinderter ZNS-Penetration für metastasierende onkologische und neuroonkologische Anwendungen in den nächsten zwölf Monaten in die Klinik zu bringen. Um die klinische Entwicklung dieses Assets zu finanzieren und durchzuführen, haben wir bereits das Unternehmen cedekapharma gegründet. Eine nächste Ausgründung könnte im Bereich weiterer CDK-Inhibitoren liegen, wobei wir uns weiterhin auf neurologische und onkologische Anwendungen fokussieren werden. Wir arbeiten also an der weiteren Validierung und Wertsteigerung durch unsere Technologieplattform, indem wir mit Partnern weitere Spin-outs generieren.