Abstraktes Lernen beginnt bereits auf den ersten Ebenen der visuellen Verarbeitung

Die Lernfähigkeit von Mäusen hilft Forschenden bei der Suche nach Hirnregionen, die erworbenes Wissen speichern

Mäuse können Experten darin werden, Bilder anhand feiner Unterschiede zu sortieren. Teile des erworbenen Wissens wird in frühen visuellen Hirnarealen gespeichert.

Ist es ein Rembrandt oder ein Vermeer? Laien fällt es oft schwer, Gemälde dieser beiden alten Meister zu unterscheiden. Das geübte Auge hingegen hat damit keinerlei Schwierigkeiten. Wissenschaftler:innen am Max-Planck-Institut für Neurobiologie haben nun nachgewiesen, dass auch Mäuse Experten darin werden können, Bilder in Kategorien zu sortieren. Die Studie zeigt, dass Teile dieses Expertenwissens bereits in den frühen visuellen Hirnarealen vorhanden sind. Das verdeutlicht, wie weit verteilt semantische Erinnerungen im Gehirn gespeichert werden.

Haben Sie schon einmal versucht ein Gemälde von Rembrandt von einem von Vermeer zu unterscheiden? Vermutlich würde dies einem Ratespiel ähneln: Die Unterschiede sind für ein ungeübtes Auge subtil. Kunstliebhaber hingegen haben keine Schwierigkeiten bei der Zuordnung und das, obwohl es nur wenige allgemeingültige Anhaltspunkte gibt. Wie ist das möglich?

Das semantische Gedächtnis ist ein Speicherort für Expertenwissen
Ein Schlüssel zum Erfolg ist Üben: Kunstexperten betrachten Tag ein, Tag aus hunderte von Gemälden. Dabei entwickeln sie allmählich ein Gespür für die Merkmale, die bei der Unterscheidung eine Rolle spielen. Dieses Gespür ist nichts Anderes als erlerntes Wissen und wird in ihrem semantischen Gedächtnis gespeichert. Das ist die Sammlung aller abstrakten Informationen, die nicht mit einem bestimmten Erlebnis verknüpft sind: zum Beispiel das allgemeine Wissen, dass Vermeer ein niederländischer Maler ist – im Gegensatz zu der konkreten Erinnerung, wo sie zum ersten Mal ein Vermeer-Gemälde gesehen haben.

Bis heute wissen wir jedoch wenig darüber, wie das semantische Gedächtnis funktioniert. Der Neurobiologe Pieter Goltstein arbeitet zusammen mit Mark Hübener in der Abteilung von Tobias Bonhoeffer und erklärt: „Um zu untersuchen, wie solche Informationen gespeichert werden, müssen wir zunächst herausfinden, wo wir sie im Gehirn finden können. Wir kamen deshalb auf die Idee, Mäusen eine ähnliche Aufgabe wie Kunstexperten zu stellen und zu testen, ob auch sie solch komplexes Wissen erlernen können.“

Mäuse werden zu Experten im Kategorisieren
Zusammen mit Sandra Reinert zeigte Pieter Goltstein Mäusen unterschiedliche Streifenmuster, die sie in zwei Kategorien einteilen sollten. Dazu mussten die Mäuse verschiedene Aspekte abwägen und sowohl die Breite als auch Orientierung der Streifen miteinbeziehen.

Überraschenderweise ordneten die Mäuse nach einer anfänglichen Lernphase die Bilder zuverlässig der richtigen Kategorie zu. Sie waren zu Experten geworden und konnten ihr neu erlerntes Kategorie-Wissen ohne weiteres auf Muster anwenden, die sie während des Lernens noch nicht gesehen hatten – sie extrapolierten die Merkmale der Kategorien, die sie als semantische Information gespeichert hatten.

Der visuelle Kortex hilft beim Kategorisieren
Doch liegt die Information über Kategorien bereits im visuellen Kortex, wo visuelle Reize eintreffen und analysiert werden? Oder findet es sich erst nach vielen anfänglichen Verarbeitungsschritten in höheren Hirnarealen?

Mit einem kleinen Trick gingen die Wissenschaftler:innen dieser Frage auf den Grund: Da Nervenzellen im visuellen Kortex auf visuelle Reize an einem bestimmten Ort reagieren, zeigten sie den Mäusen zunächst nur Streifenmuster in einem Teil ihres Sehfelds. So trainierten die Tiere gezielt eine spezifische Nervenzellgruppe. Verlagerten die Forschenden die Muster an einen anderen Ort, wurden die Reize von anderen Nervenzellen verarbeitet und die Mäuse konnten nicht mehr so gut kategorisieren. Darüber hinaus führte die Inaktivierung des visuellen Kortex zu einem ähnlichen Ergebnis. Zusammen deutete dies darauf hin, dass Nervenzellen im visuellen Kortex am Erlernen von Kategorien beteiligt sind.

Teile semantischer Informationen finden sich bereits im visuellen Kortex
Parallel zum Kategorie-Training konnten die Wissenschaftler:innen wiederholt die Aktivität vieler Nervenzellen messen und Veränderungen im Verlauf des Lernens feststellen. Interessanterweise unterschieden einige Regionen des visuellen Kortex am Ende des Lernprozesses die Kategorien besser. Mark Hübener, der Studienleiter, erklärt: „Die Nervenzellen in diesen Regionen erhalten zweierlei Input. Sie reagieren auf einen bestimmten visuellen Reiz und erhalten zusätzlich die Information, wenn die Maus ein Bild der richtigen Kategorie zugeordnet hat. So können die Nervenzellen wichtige visuelle Reize, die mit Kategorien zusammenhängen, identifizieren und ihre Reaktion darauf verstärken.“

Die Neuronen im visuellen Kortex sind also in der Lage, ihre Reaktion beim Lernen anzupassen. Aber nicht nur das: Bei der Analyse der Daten stach eine Region des visuellen Kortex, genannt POR, besonders hervor. Die Forschenden fanden Anzeichen, dass dort abstrakte Kategorie-Information gespeichert wird. Damit zeigt die Studie, dass abstraktes Lernen bereits auf den ersten Ebenen der visuellen Verarbeitung beginnt.

Max-Planck-Institut für Neurobiologie
  • Am Klopferspitz 18
  • 82152 Martinsried
  • Tel.: +49 (0)89/8578-2424